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BVerfG: Zur unwirksamen Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage

Beschluss vom 03.11.2021 - Az. 1 BvL 1/19

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit einer langjährigen Streitfrage zu beschäftigen: Ist die zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage mit dem Grundgesetz vereinbar? Die Verfassungsrichter sagen: „Nein“.

Hintergrund der Entscheidung war die Klage eines Eigentümers mehrerer Grundstücke in Rheinland-Pfalz. In den Jahren 1985/1986 wurde die an seine Grundstücke angrenzende Straße gebaut. 1991 verlangte die Stadt hierfür Vorausleistungen auf die Erschließungsbeiträge. Der Plan, die Straße vierspurig weiterzuführen, wurde 1999 fallen gelassen, die Straße dagegen zweispurig weitergebaut. 2007 wurde sie in voller Länge als Gemeindestraße gewidmet. Im Anschluss setzte die Stadt Erschließungsbeiträge unter Anrechnung der Vorausleistungen des Klägers fest. Nach der Aufhebung zweier Bescheide durch das Verwaltungsgericht, wurden die Beiträge 2011 neu festgesetzt und erhob einen Nacherhebungsbeitrag von einem Flurstück. Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos. Die Gerichte argumentierten, dass die Beitragspflicht erst durch die Widmung im Jahr 2007 entstanden sei und die Festsetzungsfrist damit erst am 31.12.2011 abgelaufen wäre. In der Revision legte das Bundesverwaltungsgericht dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob die entsprechende landesrechtliche Regelung, die eine zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage erlaubt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Nach Meinung der Bundesverfassungsrichter, verlangt das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, dass „Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen.“ Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entsteht, muss für die Betroffenen daher erkennbar sein. Nach der Rechtsprechung ist dies im Erschließungsbeitragsrecht dann der Fall, wenn die Erschließungsanlage den technischen Anforderungen entspricht und dies für den Beitragspflichtigen erkennbar ist. Die angegriffene landesrechtliche Regelung erlaubt es dagegen, dass in Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten ist, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben sind, die Festsetzung der Beiträge ohne zeitliche Begrenzung. „Die Regelung verschiebt auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies wird den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht gerecht.“ Darüber hinaus wies das BVerfG darauf hin, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Wann eine entsprechend adäquate Obergrenze vorliegt, sei primär eine Frage, die der Gesetzgeber beantworten muss. „Jedenfalls genügte eine dreißigjährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht".

- 29.11.2021 -